Der Weg zur Weisheit
Dies ist eine Übersetzung von Joe Edelmans Essay When Wisdom Comes, das mich sehr berührt und geprägt hat. Wenn ihr könnt, lest das Original!
Herzlichen Dank an rixx, Pecca und Wolfgang für’s Korrekturlesen! <3
Gefühle werden oft missverstanden. Sogar von Psychologen, Philosophen und Neurowissenschaftlern und sicherlich von Designern und Aktivisten.
Ich werde zunächst beschreiben, wie Gefühle in uns wirken. Daraus ergeben sich Definitionen von Integrität und Weisheit. Ich werde die Frage stellen, ob sich die Weisheit im Niedergang befindet, und Antworten finden, die mit Organisationen und Bürokratien zu tun haben. Und schließlich werde ich betrachten, wie man anderen im Blick auf ihre Gefühle und Werte helfen kann.
Wie Gefühle in uns wirken
Dies ist die Grundidee:
Jedes Gefühl ruft uns etwas in Erinnerung, das uns wichtig ist.
Zum Beispiel:
- Wut verrät uns, dass etwas, das uns wichtig ist, blockiert ist
- Angst, dass etwas, das uns wichtig ist, bedroht ist
- Scham, dass wir etwas, das uns wichtig ist, nicht gerecht geworden sind
- Verwirrung, dass uns die Vorstellung von etwas fehlt, das uns wichtig ist
- und so weiter
Wir lernen durch unsere Gefühle, was uns wichtig ist. Sie verraten uns unsere Werte.
Gefühle helfen uns außerdem, unseren Umgang mit unseren Werten zu überprüfen. Positive Gefühle erinnern uns daran, zu begrüßen oder wahrzunehmen, was uns wichtig ist. Negative Gefühle hingegen tun mehr: Ein negatives Gefühl signalisiert einen Konflikt zwischen unseren Werten, über den wir nachdenken sollten:
- Vielleicht haben wir nach Wert B gestrebt, dabei aber Wert A vergessen. Ich habe früher zum Beispiel versucht, effektiv zu sein, dabei aber vergessen, dass es mir auch wichtig war, freundlich zu sein. Das könnte zu Betretenheit führen.
- Oder wir vernachlässigen vielleicht Wert B, weil wir es für unmöglich halten, beide zu verfolgen. Ich könnte es zum Beispiel für unmöglich halten, gleichzeitig meinem Interesse nach kreativer Arbeit nachzugehen, während ich meine Familie finanziell unterstütze, aber beides ist mir wichtig. Das führt vielleicht zu Frustration oder Sehnsucht.
Es gibt viele weitere Arten von Konflikten. Zum Glück haben wir aber Gefühle, die uns mitteilen, dass wir uns mit diesen Konflikten auseinandersetzen müssen, anstatt sie einfach zu übergehen. Die Gefühle erinnern uns daran, uns selbst Fragen zu stellen wie:
- Kann ich freundlich und effektiv sein?
- Halte ich wirklich viel davon, effektiv zu sein, oder ist es vielleicht immer wichtiger für mich, freundlich zu sein?
- Ist es wirklich unmöglich, kreativer Arbeit nachzugehen und gleichzeitig meine Familie finanziell zu unterstützen?
- Was würde tatsächlich passieren, wenn ich aufhören würde, meine Familie finanziell zu unterstützen?
Oft wollen wir uns diese Art von Fragen nicht stellen. Aber die Gefühle kommen weiter in uns auf, bis wir es tun. Bis wir uns die Zeit nehmen, all diese Konflikte so gut es geht zu lösen, gibt es eine Diskrepanz zwischen dem, was wir leben, und dem, was uns wichtig ist. Diese Diskrepanz führt dazu, dass wir nicht stolz darauf sein können, wer wir sind. Um uns selbst und unsere Entscheidungen akzeptieren zu können, müssen wir uns mit den Konflikten auseinandersetzen.
Besitzt du Integrität?
Oft scheitern wir daran, die Botschaften unserer Gefühle zu empfangen. Dafür kann es drei Gründe geben:
- Verdrängung. Wenn eine Person sich ihrer Gefühle nicht bewusst ist oder es sich nicht erlaubt, sie zu spüren, werden die Gefühle verdrängt. Verdrängte Gefühle können völlig verschwinden. Man wird abgestumpft, depressiv oder ängstlich.
- Dampf ablassen. Andere Leute spüren ihre Gefühle, nehmen sie aber nicht ernst als Botschafter dessen, was wichtig ist. Die Gefühle kommen immer wieder zurück und die Person wird melodramatisch.
- Vermeidung. Eine dritte Gruppe schafft den ganzen Weg bis hin zur Erkenntnis, was ihnen wichtig ist, setzt sich aber nicht mit den aufgedeckten Konflikten auseinander und löst sie auch nicht. Diese Leute werden dauerhaft hilflos, konfliktbehaftet, verwirrt und realitätsfern sein.
Du kannst diese Probleme vermeiden, indem du die Situationen in deinem Leben ganz zu Ende fühlst, angefangen bei den Emotionen, und endend mit einer Vereinbarung von Werten:
Fühlen → Wertschätzen → Sich auseinandersetzen → Vereinbaren
Eine Person, die alle ihre Situationen zu Ende gefühlt hat, besitzt Integrität. Sie ist geerdet. Integrität bedeutet, dass sie weiß, was ihr wichtig ist, und dass sie sich mit allen Konflikten auseinandergesetzt hat.
Zu Integrität zu kommen ist am einfachsten, wenn sich deine Situation langsam ändert: Dann hast du viel Zeit, um deine Gefühle wahrzunehmen, um herauszufinden, was dir wichtig ist, und um dich mit möglichen Konflikten auseinanderzusetzen.
Und wie ist es mit Weisheit?
Je dynamischer dein Leben ist – je größer die Vielfalt an Leuten und herausfordernden Situationen ist, mit denen du jeden Tag umgehst – desto schneller musst du im zu Ende fühlen sein. Die wichtigste Fähigkeit für Führungspersonen ist es, schnell darin zu sein, Dinge zu Ende zu fühlen. Eine solche Person ist lebenserfahren oder weise.
Es ist leicht zu erkennen, ob eine Person weise ist: Sie spricht klar und deutlich über ihre Gefühle und Werte und darüber, wie sie sich in verschiedenen Situationen mit ihren Werten auseinandergesetzt und diese miteinander vereinbart hat.
Sie ist außerdem kreativ. Eine weise Person lenkt ihr Leben und ihre soziale Aktivität in ungewöhnliche, kreative Richtungen. Sie hat Werte, die nur durch die Auseinandersetzung mit Konflikten entdeckt werden können.
Hier ist ein Beispiel:
- Früher habe ich versucht, von Leuten gemocht zu werden. Aber irgendwann erkannte ich, dass dies mit meinem Wert, mich wohlzufühlen, im Konflikt stand. Ich merkte, dass ich angespannt und unecht war, um gemocht zu werden. Ich fühlte mich bestürzt und verlegen und das half mir, mich dafür zu entscheiden, nicht darauf aus zu sein, gemocht zu werden, sondern stattdessen zu versuchen, authentisch und mitfühlend zu sein.
- Später kam mein neuer Wert, authentisch und mitfühlend zu sein, in Konflikt damit, effektiv zu sein. Ich merkte, dass ich lieblos war, wenn ich Gruppen dazu drängte, effektiv zu sein. Mich frustriert und verwirrt zu fühlen, ermutigte mich dazu, das aufzulösen. Ich entwickelte eine neue Sicht auf Effektivität, die darauf abzielt, Kompetenz in mir und anderen zu fördern.
In beiden Fällen behob der Übergang von alten zu neuen Werten einen Denkfehler:
- Als ich es aufgab, gemocht zu werden, erweiterte sich meine Vorstellung von guten Beziehungen.
- Als ich es aufgab, effektiv zu sein, korrigierte ich ähnliche falsche Vorstellungen von guten Teams.
Ich konnte die alten Werte deshalb aufgeben, weil ich geklärt hatte, was sie wirklich für mich bedeuteten. Die Bedeutsamkeit der alten Werte ging völlig in dem neuen, umfassenderen Wert auf.
Diese mächtigen neuen Werte und Perspektiven resultieren aus negativen Gefühlen. Ohne unsere Gefühle würden wir auf primitiven Werten wie gemocht werden und effektiv sein hängenbleiben.
Ist Weisheit im Niedergang?
Ich glaube, dass all dies – Gefühle, Werte, deren Vereinbarung – Teil der menschlichen Natur ist, genau wie Sprache oder Gebärden. Aber viele von uns haben das aus dem Blick verloren. Wenn Gefühle natürlich sind, warum ist das Wesen von Gefühlen dann so undurchschaubar?
- Auf das Individuum bezogen, warum verwirren uns Gefühle und Werte?
- Auf die Gesellschaft bezogen, warum ist diese Verwirrung so verbreitet?
Wie Individuen sich verwirren lassen
Unsere Fähigkeit, Dinge zu Ende zu fühlen, ist Angriffen ausgesetzt. Zum Einen arbeiten verbreitete kulturelle Mythen daran, uns hinsichtlich der Funktionsweise von Gefühlen und Integrität zu verwirren. Und zum Anderen lassen falsche Annahmen unsere Werte unvereinbar erscheinen.
Kulturelle Mythen. Es gibt verbreitete kulturelle Missverständisse zum Thema Gefühle:
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Einer dieser Mythen ist die stoische Person – üblicherweise ein Mann – die irgendwie weiß, was ihr wichtig ist, und die ihre Werte vereinbart, ohne dabei jemals ihre Gefühle zu spüren. Der Mythos ist, dass sie einfach auf magische Art und Weise eine höchst effektive Person ist.
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Ein anderer Mythos ist die hysterische Person – üblicherweise eine Frau – deren Gefühle nichts darüber aussagen, was ihr wichtig ist. Der Mythos ist, dass sie einfach ihren Mann stehen, unnachgiebig bleiben oder Gleichmut entwickeln muss.
Die dominierenden Ansätze der klinischen Psychologie unterstützen und fördern diese Mythen: Die stoische Sichtweise wird von kognitiver Verhaltenstherapie und Lebensberatung unterstützt, während die hysterische Sichtweise von verschiedenen Karthasis-Therapien bzw. künstlerischen Therapien, von Achtsamkeitstraining, von manchen Formen der Familientherapie und von Co-Counseling gefördert wird.
Falsche Annahmen. Kulturelle Mythen unterbrechen den Prozess, zu fühlen oder zu erkennen, was wichtig ist. Unsere Kultur ist außerdem voller falscher Annahmen, die Werte unvereinbar erscheinen lassen. Annahmen wie:
- Wenn ich sage, was ich wirklich will, werde ich sozial ausgestoßen.
- Ich bin ein schlechtes Elternteil, wenn ich irgendetwas für mich selbst will.
- Es ist nicht möglich, als Künstler seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
- Solange ich ehrlich bin, muss ich nicht freundlich sein.
- Ich kann nicht verführerisch sein, ohne manipulativ oder übergriffig zu werden.
Wenn du einer solchen falschen Annahme unterliegst, ist es dir nicht möglich, dich mit einem Wertkonflikt auseinanderzusetzen und ihn aufzulösen. Die falsche Annahme sagt dir, dass eine Auflösung unmöglich ist. Welches Gefühl auch immer den Prozess ausgelöst hat (zum Beispiel Scham darüber, nicht freundlich zu sein, Aufregung darüber, verführerisch zu sein, oder ein Verlangen nach kreativem Ausdruck), es verwandelt sich in Verzweiflung, bevor du die Chance hast, dich mit dem Konflikt auseinanderzusetzen.
Wenn du die falsche Annahme findest und sie hinterfragst, kannst du den Konflikt auflösen.
Warum die Gesellschaft auf Verwirrung ausgelegt ist
Wenn also diese kulturellen Mythen und falschen Annahmen auf individueller Ebene so schlecht für uns sind, warum sind sie so verbreitet? Hier ist meine Vermutung: Sie haben Menschen berechenbarer gemacht und sie in bessere Rädchen im sozialen Getriebe verwandelt.
Im Laufe der letzten 300 Jahre sind Organisationen, Bürokratien und Institutionen immer komplexer geworden. Um stabil zu bleiben, brauchten sie vorhersagbare Entscheidungen der Menschen in ihnen.
Eine Person ist einfacher zu kontrollieren, wenn sie nicht gut im zu Ende fühlen ist und wenn sie glaubt, dass ihre Werte unvereinbar sind. Sie wird ein besserer Konsument und (zumindest in einer Bürokratie) ein besserer Produzent.
Die erfolgreichsten Subkulturen wären also diejenigen mit kulturellen Mythen und falschen Annahmen. Und wenn Leute darauf getrimmt werden, effektiv zu sein, werden diese kulturellen Mythen und falschen Annahmen verstärkt.
Das würde ein Muster erzeugen, das wir heutzutage sehen: Je erfolgreicher eine Gruppe ist, desto verwirrter ist sie im Blick auf Gefühle und Weisheit.
Anderen helfen
Erwarte fürs erste also, von Leuten umgeben zu sein, die schlecht im zu Ende fühlen sind, die nicht lebenserfahren oder weise sind, und die tief in kulturellen Mythen und falschen Annahmen verstrickt sind. Das wird so bleiben, bis Organisationen und Institutionen anders funktionieren.
Aber du kannst den Menschen, die dir nahe stehen, helfen:
- Wenn sie Probleme damit haben, ihre Gefühle wahrzunehmen, setz dich zu ihnen. Bitte sie, in sich hineinzufühlen, ihre Gefühle auszudrücken, und behandle diese als wertvoll.
- Wenn jemand Gefühle ausdrückt, frage, worum es dabei geht. Finde heraus, was der Person wichtig ist. Lass sie wissen, dass du dies ernst nimmst. Du möchtest ihr dabei helfen, zu erkennen, was ihr wichtig ist.
- Wenn sie denken, dass ihre Werte nicht vereinbar sind, versuche, sie nach ihren im Konflikt stehenden Werten zu fragen. Zeig ihnen, wie diese vereinbart werden könnten. Zeig dich zuversichtlich, dass ihre Gefühle zu Weisheit führen werden.
Viel Glück.
Gibt es eine Person, von deren Gefühlen und Werten du gern mehr hören würdest? Schick ihr diesen Text!
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